Donnerstag, 7. August 2014

Einladung von Schmidtski

Endlich wieder ein Brief vom Jobcenter, behutsam nehme ich ihn vom Boden, wohin ihn der rüde Briefträger ruppig durch unseren Briefschlitz in der Tür geworfen hat. Das hat er nicht verdient, außerdem soll er nicht verknicken. Er duftet nach Lavendel, der Umschlag leuchtet in warmen, mattem Gelb. Beim Öffnen das erlesene, handgeschöpfte Papier aufzureißen, widerstrebt mir, für einen besonders glatten Schnitt hole ich den Brieföffner aus Elfenbein. Ziehe mir Seidenhandschuhe über, um keine Fettflecken auf den Dokumenten zu hinterlassen, die ich so lang schon ersehnt habe. 
Eine Einladung, lese ich mit leuchtenden Augen, von Lord Fabian Schmidtski, meinem Herzog der Arbeit, zu vertraulichem Gespräche am Rande der üblichen Sommerfestivitäten. Erlauben unterwürfigst, sich meiner Anwesenheit zu versichern. Lobpreisung der überirdischen Dichtkunst des Empfängers, weitere Schmeicheleien und ein schließendes “Vivat, vivat!”.
Eine Woche noch fern der Termin, Gänsehaut in Erwartung, freue mich wie eine Prinzessin auf den ersten Hofball. Was soll ich anziehen? Nur eine Woche, um alles nötige zu besorgen, ein Paar weiche, spitze Lederschuhe, dazu eine tief sitzende Lammswoll-Bügelfalte, eine schillernde Weste und ein feingewebtes Leinenhemd. Einen passenden Fedora, wie soll ich das alles nur rechtzeitig zusammenbekommen?
Am Tag davor klingelt es an der Tür, ein Bote bringt Blumen. Frischen Sommerstrauß mit Sonnenblume und weißen Nelken. Auf einer Karte auf Büttenpapier eine Erinnerung an das kommende Ereignis, der Bote singt herzzerreissend “Que sera, sera”.
In der Nacht davor unruhiger Schlaf. Erwarte ich zuviel, werde ich mich überhaupt würdig und elegant zeigen können, gehörte ich überhaupt in diese feine Gesellschaft? Immer wieder Herumwälzen, aufwachen, zum Mond schauen, einnicken. Wilde Träume. Wache viel zu früh auf und fühle mich krank. Welche Geringschätzung meinerseits, in solch einem Zustand dort aufkreuzen zu wollen. Muss absagen. Lord Schmidtski wird enttäuscht sein, kann das entgegengebrachte Vertrauen, nein, darf das entgegengebrachte Vertrauen nicht ausschlagen.
Reaktiviere mich durch starken Kaffee, und heftiges Schrubben und Bürsten in der Dusche, lege die neue Kleidung zurecht, entferne Fussel. Erwäge einen Gedichtband mitzunehmen, falls der Ruf nach Unterhaltung besteht. Empfinde es dann wieder als vermessen, besser ist, zu solchem Anlasse einen Klassiker aus dem Gedächtnis zu zitieren. Rememoriere schnell den Prometheus für Notfälle und stecke meine Gedichte doch ein. Fast schon zu spät eile ich los, unedel auf dem Drahtesel, aber stelle ihn unweit des Jobcenters in den Schatten.
Vor den Toren spielen Gaukler, manche jonglieren, einer auf dem Einrad, ein anderer spuckt Feuer. Sicherheitskräfte im Smoking teilen erfrischende Cocktails aus. Von der Straße strömen Gäste hinein, steigen aus Droschken und Kutschen, geleitet von Galanen schreiten sie an den Gauklern vorbei zum Empfang, oder im Schlepptau schöner Schwestern. Der Himmel ist blau und für den Schatten sind große, bunte Tücher über die Straße gespannt. Der Zauber des Augenblicks paralysiert mich, eine freundliche Dame des Hauses erspäht mich, wie ich verloren dort stehe, und geleitet mich sanft hinein.
“Der große Dichter, Lord Schmidtski sprach von Ihnen”, sagt sie kurz, lässt mich dann aber weiter Staunen. Denn Drinnen erst, welch Spektakel. Menschen aus allen Ländern in bunten Gewändern, dicht gedrängt im Empfangssaal. An dessen Querseiten spielen Kapellen, davor drehen sich Tanzpaare. In der Mitte ein steter Strom zur Haupttreppe hin, hoch zu den Galerien.
Ob es dem Herrn gerade recht sei, frage ich sie, ich würde gerne geduldig warten bis zur geeigneten Stunde und wolle mich nicht aufdrängen.
“Nein, nein, man erwartet sie schon gespannt”, sagt sie, fasst mir beruhigend an die Schulter und führt mich hinauf zur zweiten Galerie. Hier und dort bemerke ich ein Tuscheln in den Reihen der Menschen, die wir abschreiten. “Der Dichter” glaube ich einmal zu hören, doch schnell ist die junge Frau, die so verschämt herüberschaute, wieder in der Menge verschwunden.
In der Galerie oben wird es etwas leerer, so dass der Blick auf  die reich mit Kunst verzierten Wände frei wird. Ein Genuss und Entspannung dem überreizten Auge, zu sehen sind hier Darstellungen von Handwerkern mit ihren spezifischen Werkzeugen. Bretter werden versägt, Mauern aufgezogen, Löcher gebohrt, Rohre verlegt.
Plötzlich teilt sich die locker stehende Gesellschaft und Lord Schmidtski kommt in Sicht, winkt fröhlich vom Balkon der Galerie herüber. “Herr Sorge! Lange erwartet und doch genau zur rechten Zeit eingetroffen. Herüber, herüber mit dem Genius.” Umstehende erheben die Gläser und es erklingt: “Vivat, vivat.”
“Welche Ehre, Fürst Arbeitsvermittler Schmidtski, meinen unwürdigsten Dank”, gehe auf ein Knie.
“Herauf, herauf mit ihm!”, lacht Schmidtski, von den Seiten strömen lustige Leute heran, greifen unter den Arm und stellen mich auf die Beine. Vivat, vivat.
Forderungen werden laut, ich solle rezitieren, aber der Lord nimmt mich beiseite zum Balkon und ruft der Meute zu: “Erst die Arbeit…” “Erst die Arbeit”, geben sie zurück. “Dann das Vergnügen.” Und auch das wiederholen sie und brechen beim Vergnügen in Jubelrufen und schallender Freude auf.
Etwas abgeschirmt, am Geländer des Balkons, schaut mich Lord Schmidtski ernst an. “Denn Arbeit macht Freunde”, sagt er, dann lächelt er entspannt. “Lassen Sie sich nicht verunsichern, aber ich weiß, des Künstlers Seele ist nicht sanfter an sich, nur schnell überreizt wegen der größeren Antennen.”
Sein Tonfall überrascht mich. Neben all der Freundlichkeit war sein Empfang doch sehr bestimmt und er schien noch mit den eigentlich wichtigen Worten zu ringen. “Sie wissen ja, wie sehr wir ihr Dichtkunst und ihre Werke, die ja große Verbreitung und Beliebtheit erlangt haben, schätzen und wie gern wir im Dienste dieser Gesellschaft, die Sie verehrt, unseren Reichtum mit Ihnen teilen.”
Verbarg sich da noch ein Aber? Aber was für ein aber?
“Nur müssen wir eben dann und wann, und in Ihrem Fall bis zum Jahresende unsere Bestrebungen zur Förderung der Kunst und Literatur intensivieren.”
“Intensivieren?”
“Weniger ist oft mehr, und von mehr kommt mehr - glauben Sie mir, leicht fällt mir das nicht, aber das große Werk ist ja von Ihnen, bei all unserer Begeisterung, noch nicht zu den Klassikern gestellt, und bis dahin, nun ja, muss jede Option erwägt werden, wie man Ihrer Muse - wie soll ich das sagen?”
“Meine Muse?”
“Schwester der Muße”, ergänzte er spontan, grinst, bis er außen ein Haifisch wird. “Ihrer Muse etwas Feuer unter dem Arsch machen, salopper gesagt. Hören Sie mir gut zu, bis zum Jahresende ist ein episches Feuerwerk zum Weihnachtsfest abgeschossen, und abgeschlossen, sonst…”
“Sonst?” Ich glaube meinen Ohren nicht.
“Sonst ist sie vielleicht zu den Alten und Kranken gegangen, denen Sie als religiöse Spendensammlung für ein paar Klimpertaler Gedichte vorlesen könnten. Mitunter werden. Und Märchen von früher. Das macht so mancher, haben sie nicht schon davon gehört? Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will Ihnen das jetzt gar nicht - sie wollen das ja bestimmt nicht und ich will das auch nicht. Aber viel Zeit bleibt nicht, schmieden sie ihre hüsche Feder mal recht bald zur funkelnden Schwertschneide um und hacken mal ein bisschen richtiges Holz damit? Kapische?”
“Ja, verstanden.”
“Lord Schmidtski hat fertig, und jetzt eifrig ins Getümmel.”
Er taucht in die Meute und gerät außer Sicht. Schwer benommen taumle ich vom Balkon und tauche an einer anderen Stelle ein. Ein paar hilfsbereite, gute Seelen nehmen mich in die Mitte, tragen mich zu einer ruhigen Stelle und betten mich auf sanfte Kissen. Man bringt mir Wasser, Hanf und Wein, streichelt mich sanft wieder zu Kräften.
Ich sitze bald wieder aufrecht, umspielt von Gliedmaßen zaubervoller Grazien, jemand schwingt einen Fächer und ich lausche einer Gitarrenspielerin. “Hat nicht Schmidtski Recht”, denke ich, und formuliere schon erste Urlaute in mir für die kommende Hymne.
Der Tag gerät noch zum rauschenden Fest, und als ich am Tag danach wieder am Schreibtisch sitze, denke ich schon daran, wie wohl das nächste Mal sein wird. Der nächste Besuch beim Jobcenter ist doch immer der schönste.