Donnerstag, 12. Juni 2014

Das Orakel im Kiez - Teil 1 von 3

In der Kneipe "Seesack" hörte ich von Heinzi, dem Weddinger Fußballorakel. Nicht nur zur WM weissage er, erzählte ein Männchen am Tresen, das ganze Jahr könne man seine seherischen Kräfte bemühen, mindestens bis in die Kreisliga hinein. Eine überregionale Berühmtheit hätte er über die Jahre erlangt, hörte ich weiter zu meinem Verblüffen. Vor allem in Wettsalons, fügte er an, dass ich noch nie von Heinzi gehört hätte, ließe aber eigentlich nur den Schluss zu, ich nähme es mit dem Fußball wohl nicht so genau. "Genau", war ich versucht zu bestätigen, bemerkte jedoch rechtzeitig, dass nach den letzten Worten die Aufmerksamkeit aller Kneipengäste auf mich gerichtet war. Nicht aggressiv, nur latent übersensibel, so weit man die regungslosen Gesichter hinter ihren Vereinsschals, Wappen-Mützen und Schland-Tröten überhaupt ausmachen konnte.
"Doch, doch", rief ich aus, "Olé, olé, olé - ich muss ihn sehen." Was sie beruhigte.
Um einen Orakelspruch zu erlangen, müsse ich gen Norden aufbrechen, hoch in den Rehbergen liege sein Domizil. Ich solle mich dort mit einem Kasten Schultheiss vorstellen, meine konkrete Frage äußern, und den Weg täglich bis zu einer Antwort des Orakels wiederholen.
So schulterte ich am nächsten Tag einen frischen Kasten aus dem Supermarkt und begann den Aufstieg in die Berge. Bald schon sah ich auf der Straßenseite gegenüber noch jemanden sich mit Pilsetten abschleppen, je näher ich Heinzis Tempel kam, desto mehr wurden es. Am frühen Mittag gelangte ich erschöpft zu der Hinterhofeinfahrt, die mir genannt worden war, und stellte mich in die Schlange der Bittsteller. Neben der Einfahrt befand sich offenbar ein Lager der Kneipe nebenan, mürrisch wies ein ziegenbärtiger Alter die Wartenden an, ihre Kisten dort an der Tür abzugeben, wo die Gaben namentlich quittiert wurden. Längst nicht alle hatten nur Bier dabei, auch Hochprozentiges landete im Lager oder den umfangreichen Taschen des Alten.
"Ich bin das erste Mal hier", sagte ich ihm, als ich an der Reihe war, und reichte ihm einen Flachmann, der in seinem Mantel verschwand, wo es klimperte. Der Alte nickte mir zu: "Geh hier links durch zu Jutta, die nimmt deine Frage auf." Er wies auf einen Flur im Seitenflügel. 
Über dem Eingang war ein Schild angebracht, auf dem stand: “Verbrenne dich selbst”, dahinter fand sich eine Art Empfangstresen, an dem eine Frau mit violetter Dauerwelle, sowie halbleerer Biertulpe und offener Schachtel Pall Mall wartete.
“Hab Se hier noch nich jesehen, junger Mann, ham Se ihre Quittung?”
Ich reichte ihr die Kistenbestätigung, die sie anerkennend entgegennahm und an einen weißen Zettel heftete.
“Ihrn Namen brauch ick noch, und die Frage natürlich.”
Ich sagte ihr ersteres und grübelte derweil, was ich eigentlich wissen wollte. Fußball interessierte mich ja nicht die Bohne, es gab auch kein konkretes Wettgeschehen, an dem ich mich beteiligen wollte. Im Grunde war die Wette gewesen, ob ich eigentlich herkommen würde, wie sie im Seesack gestern bestimmt gelästert hatten: Wetten, der jeht nicht zu Heinzi. Und das war entschieden. 
“Machen Se’t nich so kompliziert, Heinzi mag keine Nebensätze.” Jutta wartete geduldig, leerte die Tulpe bis auf eine letzte Pfütze und steckte sich eine Fluppe an.
Das einzige, was mich persönlich wirklich umtrieb in Sache der kommenden Weltmeisterschaft, überlegte ich: wann die deutsche Mannschaft endlich wieder ausscheiden würde. Wann wieder Leute zu den Lesungen kommen würden, wann sie enttäuscht die Fähnchen zu Boden schmeissen und sich hastig die Farben von der Wange wischen würden - wann ich endlich im Tränenfluß der Verlierer baden konnte. Das wollte ich wissen, wann der Spuk vorbei sein würde, damit ich etwas hätte, worüber ich mich freuen konnte. An dem Abend würde ich feiern, durch die Straßen ziehen, zwischen allen trauernden Schland-Zombies tanzen, die enttäuscht in ihre Heimathöhlen zurückschlurfen würden. 
“Ich möchte wissen, in welcher Runde die deutsche Mannschaft aus dem Turnier fliegt.”
“Sachte, sachte”, Jutta pustete einen Nikotin-Atompilz in die Luft, “dit is suggestiv, so kann ick dit nich uffschreiben.”
“Suggestiv?”
“Naja, wann se rausfliegen heißt ja schon, dass se rausfliegen.”
“Aber fliegen sie nicht alle raus?”
“Ja, mit ner Boing oder irgendnem anderen Vogel fliegen se alle rein und raus, aber dit meinten Se ja wohl och nicht.”
“Okay, wie weit kommen sie im Turnier?”
“Brasilien?”
“Äh, gibts noch eine WM woanders?”
“Nee, ich meine, wie weit se kommen - bis nach Brasilien, wa, so geographisch. Ick will Se nich verscheissern, guckense nich so, ick will, dass Se präziser werdn, sonst bekommen Se von Heinzi vielleicht n’Orakelspruch, der den Uffwand nich lohnt. Gloobn Se mir, Se wären nich der erste, der hier später rumheult. Ick will ihnen nur helfen, meen Ratschlag wäre, fragen Se einfach, ob die Deutschen jewinnen, und wenn Heinzi jut drauf ist, sacht er ihnen noch die Runde.”
“Einverstanden”, Jutta notierte die Frage und legte den Zettel auf einen Stapel anderer.